
„Wisdom of the crowd" Artikel #4
Erfahrung mit meinem persönlichen Ressourcenlimit
In den letzten Tagen habe ich darüber gesprochen, dass wir alle ein persönliches Ressourcenlimit haben, das im Endstadium zu einem Burnout führen kann. Heute möchte ich einige interessante Informationen mit dir teilen, die mir geholfen haben, dieses Thema besser zu verstehen und zu verarbeiten. Vielleicht ist auch für dich der eine oder andere Impuls dabei.

Der Begriff „Stress“ wurde erstmals 1914 von Walter Cannon im Zusammenhang mit Alarmsituationen (Kampf-oder-Flucht-Reaktion) verwendet. Auf dieser Grundlage formulierte Hans Selye (1936) Stress als einen körperlichen Zustand unter Belastung, der durch Anspannung und Widerstand gegenüber äußeren Reizen (Stressoren) gekennzeichnet ist – das sogenannte allgemeine Anpassungssyndrom. Hans Selye entlieh den Begriff aus der Physik, um die „unspezifische Reaktion des Körpers auf jede Anforderung“ zu beschreiben. Bis heute gibt es keine einheitliche Definition oder konzeptionelle Operationalisierung von Stress.
Nicht jeder geht mit äußeren Stressoren aus Arbeit, Privatleben und Gesellschaft gleich um. Manche Menschen sind durch denselben äußeren Stressor deutlich mehr belastet als andere. Warum ist das so?
Das transaktionale Stressmodell von Lazarus
Das transaktionale Stressmodell von Lazarus, das in den 1980er Jahren entwickelt wurde, liefert eine Erklärung für diese großen Unterschiede.

Im Gegensatz zu früheren Stresstheorien ging Lazarus davon aus, dass nicht die (objektive) Beschaffenheit der Reize oder Situationen ausschlaggebend für die Stressreaktion ist, sondern deren (subjektive) Bewertung durch die betroffene Person. Menschen sind unterschiedlich empfänglich für bestimmte Stressoren: Was für den einen stressig ist, wird vom anderen noch nicht einmal als stressig wahrgenommen.
Das Modell ist „transaktional“, weil zwischen Stressor und Stressreaktion ein Bewertungsprozess geschaltet ist.
Zuerst findet eine Primärbewertung (Primary Appraisal) statt:
Ist die Situation irrelevant, freundlich/positiv (benign-positive) oder stressauslösend (stressful)? Wird sie als stressauslösend erlebt, kann sie drei Bedeutungen haben:
Herausforderung: Situationen, die kontrollierbar oder bewältigbar erscheinen.
Bedrohung: Erwarteter Schaden oder Verlust.
Schaden/Verlust: Bereits erlittener Schaden oder Verlust.
Nach dieser ersten Bewertung erfolgt eine Sekundärbewertung (Secondary Appraisal):
Es wird eingeschätzt, ob die vorhandenen Ressourcen ausreichen, um mit der Situation umzugehen. Wenn diese als unzureichend eingeschätzt werden, wird eine Stressreaktion ausgelöst.
Die Nebenniere reagiert, es werden unter anderem Cortisol und Adrenalin ausgeschüttet. Manche Organfunktionen werden gehemmt, andere aktiviert.
Ein dauerhaft erhöhter Cortisolspiegel verbraucht große Mengen Energie und kann sich negativ auf die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit auswirken. Meist versuchen wir, die Energielücke mit mehr Kaffee oder zuckerhaltigem Essen zu überbrücken – doch diese steigern den Stress eher, als ihn zu reduzieren. Und so greift man immer wieder zu Koffein und Zucker, um sich „voller“ zu fühlen.

Nach einer längeren Phase von Dauerstress ist die Widerstandskraft irgendwann erschöpft. Das persönliche Energielevel ist niedrig – jeder kennt das Phänomen: Nach einer besonders intensiven Arbeitsphase beginnt endlich der lang ersehnte Urlaub, und man erkältet sich gleich zu Beginn.
Ich habe all das selbst erlebt und kann es sehr gut nachempfinden: Das eigene Ressourcenlimit ist erreicht, und man spürt, wie die Energie schwindet.
Messbar ist das über den Cortisol-Tagesverlauf – er zeigt, wie viel Energie du zur Verfügung hast.
Ich möchte mit dir ein paar Gedanken dazu teilen, was Leistungssportler*innen tun, um nicht in ein Energiedefizit zu geraten. Frag dich später selbst: Was davon kannst du für dich übernehmen? Letztlich geht es in beiden Fällen um Energieverbrauch – sei es körperlich oder durch Stressverarbeitung.
Spitzensportler*innen trainieren nicht nur zwei- bis fünfmal pro Woche – sie trainieren mehrfach täglich, auf unterschiedliche Art und Weise. Einerseits geht es darum, die Leistungsfähigkeit der Muskulatur und die koordinativen sowie technischen Fähigkeiten zu verbessern. Andererseits sind auch Regeneration und sportartübergreifendes Training wichtig, um einseitige Belastung zu vermeiden.
Sie trainieren nach einem detaillierten Trainingsplan. Der Trick: Die richtige Balance zwischen Belastung und Erholung. Auf ein intensives Training folgt meist ein leichtes Training, eine regenerative Einheit oder eine Pause.
Außerdem trainieren Leistungssportler*innen mit Personal Trainern, individuell abgestimmt auf Pulsfrequenz und unter ständiger Kontrolle der anaeroben Schwelle (die höchste mögliche Belastung, bei der der Körper noch im Gleichgewicht zwischen Laktatbildung und -abbau bleibt).
Die Ernährung spielt eine zentrale Rolle:
Ein Spitzensportler benötigt den idealen „Treibstoff“ – also eine perfekt abgestimmte Ernährung. Auch hier gibt es einen Plan, der den Körper zur richtigen Zeit mit den richtigen Nährstoffen versorgt.
Beispiel: Je nach Trainingszustand unterscheidet sich die Ernährung. Oft besteht die letzte Mahlzeit vor dem Wettkampf – etwa drei Stunden vorher – aus Kohlenhydraten, Spurenelementen und Mineralien. In Wettkampfpausen wird auf leicht verdauliche Kohlenhydrate und Sportgetränke zurückgegriffen, um die Energiespeicher schnell aufzufüllen. Danach sind Wasser, Obst und Nüsse gängige „Wiederauffüller“.
Mindestens genauso wichtig ist die mentale Stärke.
Wenn aus einem Hobby ein Beruf wird, steigt meist auch der Leistungsdruck – ebenso wie die Angst vor dem Versagen. Die Leichtigkeit und Spielfreude gehen schnell verloren, wenn plötzlich Geld und Anerkennung im Vordergrund stehen.
Spitzensportler*innen müssen lernen, mit dem ständigen Druck umzugehen, ihre Ruhe vor dem Wettkampf zu finden und sich auf sich und ihre Leistung zu fokussieren. Diese mentale Stärke ist trainierbar, daher stehen ihnen oft Mentalcoaches zur Seite – zusätzlich zu Ernährungsberatern und Trainern.
Sie helfen dabei, die Freude am Wettkampf, am Vergleich mit Gleichgesinnten und an der körperlichen Höchstleistung nicht zu verlieren. Am Ende sollte ein Spitzensportler mit einem Lächeln durchs Ziel laufen oder auf den Schlusspfiff warten können.
Meine Schlussfolgerung:
Sind wir nicht alle auf unsere eigene Art Spitzensportler – in unserer heutigen Gesellschaft?
Für uns sind Entspannung, Ernährung und mentale Stärke mindestens genauso wichtig wie für Profisportler. Denn nur mit dem richtigen Gleichgewicht aus allem ist es möglich, auf Dauer leistungsfähig, gesund und innovativ zu bleiben – und dabei noch Freude zu empfinden.
Aus meiner Sicht und Erfahrung haben wir daher die Verpflichtung, unsere Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen.
Viele Grüße und bis nächste Woche
Dein Steffen Wirth